Liebe Leserinnen und Leser,
Die Beobachtungen der Woche sind: Home Office ist etabliert, löst keine Erregung mehr aus.
Erste Erfolge in Bezug auf Wirksamkeit sind eingetreten. Entzugserscheinungen verstärken sich:
Kolleginnen und Kollegen oder Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Vorgesetzten – sie fehlen nun etwa seit drei Wochen und damit auch die Möglichkeit, anerkannte Strategien zur Bedürfnisbefriedigung anzuwenden. Gleichzeitig werden Bedürfnisse im privat-persönlichen Rahmen unter häuslicher Quarantäne nach drei Wochen deutlich sichtbar, mit unterschiedlichen Folgen.
Wir sind nach drei Wochen mitten drin. Und: Die Politik verstärkt Ihre Bemühungen dem Volk zu kommunizieren, dass es jetzt auf das Weitermachen, das Aufrechterhalten dessen ankommt, was in den vergangenen drei Wochen – unter Schmerzen – errichtet wurde. Mit anderen Worten: Es ist zu früh, um das Danach gestalten zu wollen.
Wie erleben Sie selbst sich denn bislang? Haben Sie sich unter den für Sie geltenden Rahmenbedingungen mit sich selbst und Ihren Angehörigen irgendwie arrangiert oder haben Sie Ihre Gestaltungsspielräume aktiv und kreativ genutzt, um aufrecht zu sein und bleiben zu können? Oder sind Sie einer von denjenigen, die still für sich und auch hörbar für andere beklagen, warum und wieso das jetzt alles überhaupt so eintreten konnte?
Wir sind mittendrin. Nicht am Beginn und nicht am Ende. Mit sind mittendrin in einem Prozess, den wir uns aufgrund seiner Einzigartigkeit nicht mit den Mitteln verfügbar machen können, die wir kennen, gewohnt sind und in Beruf und Privatleben sonst anwenden. Wir stecken in etwas, das neu ist und ich wage die These – die auch Ausdruck einer Hoffnung ist -, dass ein identischer Prozess in unserem Leben so nicht noch einmal auftritt.
Was also kann man derzeit sinnvoll tun, wenn doch die Verantwortung und der Gestaltungswille (weiter) laut in der Brust pochen?
Der renommierte Kommunikationsexperte Prof. Dr. Schulz von Thun schrieb in seinem Sonder-Info-Brief am Beginn der vergangenen Woche:
„Die Kunst, aus der Not eine Tugend zu machen, beginnt mit der Anerkennung der Not. Misstrauen Sie allen eifrigen Ratgebern, die auf positives Denken setzen, bevor die Not in ihrer Schockschwere seelisch anerkannt und gefühlt werden durfte! Noch ist es eindeutig zu früh, auf ein posttraumatisches Wachstum zu setzen. Die Not will erkannt und anerkannt sein – und sie ist kollektiv und hoch individuell zugleich.“
Diese Betrachtung verlässt den Boden der üblicherweise im Führungskontext betrachteten Themen, sie zoomt auf die eigenen Gefühle. Stellen Sie sich Gefühle am besten als leere, gläserne Gefäße in verschiedenen Farben vor: Die leeren Gläser – das Gefühl an sich – ist bei den Menschen identisch, nicht aber das, was reinkommt, denn Erfahrungen sind individuell. Das hat auch Auswirkungen auf die Amplitude, also wie stark ein Gefühl überhaupt vom Individuum erlebt wird. Und hier liegt der Vorteil: Die Nöte, in die wir geraten, haben einen gemeinsamen Kern, den wir zwar unterschiedlich wahrnehmen und vor allem nicht identisch bewerten, der Kern aber, die Not, klopft bei uns allen an die Tür. Sie klopft an bei jedem Einzelnen, jeder Einzelnen, sie klopft auch bei Organisationen an. Das bedeutet, dass Gefühle aktuell eben doch ein Führungsthema sind. Wenn Sie das negieren, können Sie umgekehrt auch überlegen, wer Ihrer Meinung nach denn aktuell die geeignete Instanz ist, sich mit der wachsenden seelischen Not zu befassen. Wer fällt Ihnen da ein, wenn nicht Sie selbst?
Not hat bekanntlich ein schlechtes Image. Wer in Not ist, hat bestimmt Fehler gemacht. Wer in Not gerät, hat Ratschläge in den Wind geschlagen oder auf die falschen Leute gehört. Wer Not leidet, kann nicht mehr für andere da sein. Jedoch: Bei der Sicherheitsunterweisung im Flugzeug heißt es an der Stelle mit den Sauerstoffmasken, man möge zunächst selbst eine über Mund und Nase ziehen und erst dann Mitreisenden helfen, bevor bitte normal weitergeatmet werden soll. Dieses Bild bietet zwei Schlussfolgerungen:
-
Wo ist eigentlich Ihre Sauerstoffmaske?
Was bedeutet das Bild für Sie selbst aktuell, sind Sie in der Lage, sich selbst gut zu versorgen? Wie genau machen Sie das? Die Not anzuerkennen hieße auch, das Ding jetzt auf das Gesicht zu ziehen und zuzulassen, dass wir mittendrin stecken. Wann haben Sie das zum letzten Mal gemacht? Wann haben Sie sich zum letzten Mal eingestanden, dass etwas so ist, wie es ist und die gefühlsmäßigen Folgen zugelassen und dann ausgehalten? Vielleicht liegt hier eine große Chance für die Gestaltung der Beziehung zu engsten Angehörigen, mit denen Sie aktuell den Lebensraum teilen. Schon kleine Kinder können Freude von Trauer oder Wut exzellent unterscheiden und bieten sich als Gesprächspartner an. Ein Dialog mit erwachsenen Angehörigen braucht womöglich deutlich länger, bis eine Augenhöhe erreicht ist; für die meisten dürfte das Aussprechen von selbst empfundenen Gefühlen nicht zu den wöchentlichen Routinen zählen. Jetzt ist aber Zeit für solche (Ein-)Übungen.
-
Wie steht es um die Bereitschaft, jetzt für andere da zu sein?
Haben Sie sich selbst vor Augen und bleiben somit versorgt, sind Sie zwar fähig aber nicht zwingend auch bereit, sich um die Menschen des eigenen Umfelds zu kümmern – in allen Lebensbereichen. Das Wort der Solidarität steht bereit, um diesen Effekt zu beschreiben. Wo wir bislang beruflich da waren für andere, durften wir bei guter Führung eine Gegenleistung erwarten: Geld, Anerkennung, Sichtbarkeit, Gestaltung. Das entfällt aktuell, für manche sogar das Einkommen. Sich trotzdem oder gerade deswegen hinzuwenden und hinzuschauen und zuzulassen, erkennt die Not an. Schauen Sie hin und lassen gefühlsmäßige Reaktionen zu, erkennen Sie die Not an. Das ist nicht nur die Basalemotion Freude, das werden viele von Ihnen schon bemerkt haben. Und es ist auch nicht nur Wut. Vielleicht ist es Trauer, vielleicht Ohnmacht. Wenn Sie selbst dazu noch nicht bereit sind, dann womöglich Ihre Kolleginnen und Kollegen oder Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Je tiefer und länger Sie sich selbst in Ihren Gefühlsgefäßen aufgehalten haben, desto eher wird Ihnen ein Verständnis dafür beim Gegenüber gelingen.
Was Sie tun können?
Nehmen Sie bitte spätestens jetzt zur Kenntnis, dass Angst und Schmerz emotionale Kategorien sind, die als Welle auf uns alle zulaufen. Wenn es nicht die Erkrankung enger Angehöriger ist dann womöglich der Blick auf Nachbarländer oder Staaten mit anderen Infektions- und Opferzahlen als aktuell bei uns in Deutschland. Oder der Einkommensverlust, der existentielle Folgen auf viele hat. Woran wiederum gesellschaftliche Teilhabe gekoppelt ist.
Adressieren Sie die Stimmungslage aktiv und bieten Sie ein Forum dafür, etwa am Beginn von Calls oder Video-Konferenzen. Bieten Sie diese Perspektive an ohne zu erwarten, dass alle der Einladung folgen. Es bleibt eine Einladung.
Ostern steht vor der Tür. Wo sonst entweder Rituale oder aber anerkannte und als wirksam etablierte Alltagsfluchten zelebriert werden konnten wird an Ostern 2020 zusätzlich auch noch die inzwischen etablierte virtuelle Zusammenarbeit für volle 4 Tage wegfallen. Das sind günstige Bedingungen für den Verlust von Selbstkontrolle beim Individuum. Die Not, sie betrifft uns alle und sie braucht Raum.
Ich wünsche uns allen, dass wir zu denen gehören, die diesen Raum zu gestalten weiter fähig und bereit bleiben. Einen Impuls dazu bereite ich vor für den nächsten virtuellen Zeit | Zeichen Workshop am Mittwoch, 8. April 2020 um 20.30 Uhr.
Hier geht es zur Keller Partner eAcademy
Ihr Daniel Keller für das Keller Partner Team
Bildquelle: Foto von macrovector auf Freepik