Liebe Leserinnen und Leser,
wie hätten Sie reagiert, wenn Ihnen im Jahr 2019 jemand gesagt hätte, dass wir unsere gewohnte Arbeitsweise im nächsten Jahr teilweise grundlegend verändern? Dass eine flächendeckende Neu-Organisation von vielen Projekten im Spannungsfeld von Arbeitszeit und Freizeit koordiniert werden muss? Hätten Sie diese Aussicht als Risiko und Belastung bewertet oder eher als Chance begrüßt? Vielleicht hätte Ihnen der Gedanke auch etwas Unbehagen bereitet, so manches radikal über Bord werfen zu müssen, was seit Jahrzehnten gängige Praxis ist…
Tatsächlich formulierte der Philosoph Frithjof Bergmann bereits in den 80er-Jahren Gedanken zu New Work, einer „neuen Arbeit“ abseits vom klassischen Lohnarbeitssystem, d.h. Geld gegen (Arbeits-)Zeit.
Damit wollte er nicht nur auf die zunehmende Automatisierung in der Arbeitswelt reagieren und diese zum Vorteil des Menschen nutzbar machen. Vielmehr ging es ihm auch darum, das menschliche Bedürfnis nach Autonomie und der Entfaltung der eigenen Interessen und Fähigkeiten in den Vordergrund zu rücken (Berend & Brohm-Badry, 2020; Väth, 2016). Mindestens der Teil der ursprünglichen Arbeitszeit, welcher durch die Automatisierung wieder zur Verfügung steht, sollte nach Bergmann in Persönlichkeitsentwicklung investiert werden und in einer (beruflichen) Tätigkeit, die ein Mensch persönlich als sinnstiftend empfindet. So könnte ein Supply-Chain-Manager beispielsweise nur noch einen Teil seiner bisherigen Zeit mit der Koordinierung von Lieferketten verbringen und stattdessen einen weiteren großen Teil der Zeit damit, künstlerische Holzfiguren zu schnitzen oder älteren Menschen in Pflegeheimen regelmäßig Bücher vorzulesen ‒ soweit der nahezu utopisch anmutende Vorschlag.
2021, ein paar Jahrzehnte später, scheint ein Umdenken notwendiger denn je. Einerseits angesichts von Risiken des digitalen Fortschritts, etwa drohende psychische Konsequenzen wie Depression oder Burnout durch eine möglicherweise ständige Erreichbarkeit (Väth, 2016). Andererseits sind in Anbetracht der rasanten digitalen und technologischen Entwicklung organisationale Strukturen notwendig, die eine flexible Anpassung unseres Verständnisses von Arbeit ermöglichen. New Work versucht auch in seinem heutigen Sinne Lösungen dafür zu finden.
Mittlerweile ist es ein populärer Sammelbegriff durchaus verschiedener Konzepte für eine neue Art geworden, Arbeit zu betrachten und zu gestalten.
Heutzutage werden darunter allerdings wesentlich weniger radikale Ideen als die von Bergmann verstanden (Berend & Brohm-Badry, 2020). Anstatt sich von der Erwerbsarbeit abzuwenden, wird zunächst versucht, diese neu zu gestalten.
Was kann man sich nun konkret unter New Work vorstellen? New Work Ansätze fächern sich in vier Dimensionen auf (Hofman et al., 2019):
1. Flexible Gestaltung von Ort- und Zeitkomponenten der Arbeit
Den Organisationsmitgliedern wird etwa die Wahl zwischen Büroarbeit und Remote Work gegeben oder einer variablen Kombination von beiden. Arbeitszeitmodelle können ebenfalls an die individuellen Lebensabschnitte und –bedürfnisse angepasst werden. Das Hochtechnologieunternehmen Trumpf¹ wird beispielsweise als Best-Practice-Beispiel für Wahlarbeitszeit genannt, bei der die Beschäftigten alle zwei Jahre ihre Wochenarbeitszeit neu festlegen können (Hofman et al., 2019).
2. Vermehrte Sinnstiftung durch die Arbeit
Sinnhaftigkeit bei der Arbeit kann auf verschiedenen Wegen hergestellt werden, etwa durch eine Passung von Persönlichkeit und Tätigkeit (vgl. Barrick, Mount & Li, 2013). Es liegt daher nahe, dass die Werte einer Person und die der Organisation zusammenpassen müssen (Kristof-Brown, Zimmerman & Johnson, 2005). Zudem wird die Entscheidungsmacht in Zeiten von Fachkräftemangel bei der Bewerbung und Einstellung vermehrt auf die Arbeitnehmenden verlagert – und diese suchen nicht nur nach Geld, sondern immer mehr auch nach Erfüllung (Väth, 2016). Gegebene oder geforderte Freiräume in der Tätigkeit selbst ermöglichen Mechanismen wie das Job Crafting, also die eigenmächtige Veränderung oder das Hinzufügen von Aufgaben(bereichen) innerhalb der eigenen Tätigkeit (Wrzesniewski & Dutton, 2001).
3. Änderung von Führung und Machtverteilung
New Work Ansätze bringen uns weg von exklusiver Weisungsbefugnis. Die Rolle des Chefs oder Managers muss neu gedacht werden. Zudem ist die Lockerung von Hierarchien und mehr Partizipation an Entscheidungen vorgesehen. Somit wird das Individuum mehr in organisationale Prozesse einbezogen. Damit geht auch der nächste Punkt eng einher.
4. Re-Organisierung weg von starren Einheiten, hin zu Agilität und projektbasierten Vorgehensweisen
Hier wird auch das Thema Agilität mit all seinen Facetten wieder relevant. Flexibilität und Reaktionsgeschwindigkeit sind nicht nur im Hinblick auf eine unerwartet eintretende Pandemie hilfreich, sondern werden in Zukunft dauerhaft benötigt.
Einiges von dem, was als New Work aufgefasst werden kann, scheint aktuell bereits in der Umsetzung oder zumindest im Gespräch zu sein. Trotzdem – die Angst vor der Veränderung ist immer noch spürbar. Zweifel oder Sorgen sind keine Seltenheit: Wie lässt sich so etwas umsetzen? Entfremden wir uns nicht voneinander, wenn wir uns kaum noch sehen? Endet eine dezentrale Art der Führung nicht im Chaos?
Das „Corona-Jahr“ 2020 hat uns dann jedoch mit einer unerwarteten Radikalität zu genau diesen Änderungen gezwungen. Und siehe da: Einiges muss erst erlernt werden, aber in vielen Aspekten funktioniert es. Innerhalb kürzester Zeit mussten Mitarbeitende von Zuhause aus arbeiten, Entscheidungen wurden in Video-Calls besprochen, ein Großteil des Arbeitsalltages lief in vielen Branchen rein digital ab. Rückblickend betrachtet war die Umsetzung vielleicht nicht immer ideal und aufgrund der wenig bis gar nicht vorhandenen Vorbereitungszeit eher zweckmäßig. Zudem gab und gibt es pandemiebedingt häufig auch Doppelbelastungen, etwa bei denjenigen, die ihre Kinder zuhause beim Home-Schooling unterstützen müssen. Doch auch das sollte irgendwann ein Ende haben.
Was bleibt, wenn die Pandemie irgendwann im Griff ist? Gehen wir wieder zurück zum Alten? Vermutlich nicht. Schon jetzt zeichnet sich beispielsweise der Wunsch ab, Remote Work bestehen zu lassen in Form einer offenen Option. Und wie wir seit Bergmann wissen, sind solche Optionen nach New Work wichtig für das Autonomie- und Sinnerleben.
Was in diesem Jahr und für die Zukunft relevant sein wird, ist die Ersetzung der bisherigen Zwischenlösung durch eine dauerhafte, tragfähige Implementierung von New Work. Und dafür reichen kleine Veränderungen nicht. New Work nach Bergmann bedeutet im Idealfall, dass auch ein politisches und gesellschaftliches Umdenken stattfinden muss. Beginnen können Sie im Kleineren in Ihrer eigenen Organisation.
Hier ein paar Impulse:
Setzen Sie sich mit Agilität auseinander und scheuen Sie sich nicht davor, auch mal ein Experiment zu wagen. Zum Beispiel kann Führung und Arbeit auf Distanz bei guter Selbstorganisation gelingen. Schauen Sie sich hierzu auch unser Modul Persönliche Arbeitsmethodik an.
Spätestens jetzt sollte Remote Work kein Fremdwort mehr sein, sondern schrittweise mit System und Wissen umgesetzt werden. Hilfreich kann hierzu beispielsweise unser Modul Arbeiten und Führen von zu Hause sein.
Telearbeit – Fluch oder Segen? Damit die Freiheit nicht zum Fluch wird, sind klare Regeln unerlässlich, etwa konkrete Zeiten der Erreichbarkeit im Home Office.
Stellen Sie Kongruenz zwischen Beschäftigten und den Werten der Organisation her – Stichwort Person-Organization– bzw. Person-Job-Fit (Kristof-Brown et al., 2005). Darauf können und sollten Sie bereits bei der Personalauswahl achten.
Zu guter Letzt: Verlieren Sie den einzelnen Menschen nicht aus den Augen! Fördern und ermöglichen Sie die mentale Robustheit von Menschen. Mehr darüber können Sie im Modul Resilienz erfahren. Versuchen Sie in gemeinsamen Gesprächen, so gut es Ihnen gelingt, individuellen Lebensentwürfen entgegenzukommen.
Wir laden Sie ein, innezuhalten und zu reflektieren, was Sie bisher geleistet haben in dieser ungewöhnlichen Zeit. Gleichzeitig möchten wir Sie ermutigen, entschlossen weitere Schritte zu gehen auf dem Weg in eine neue, auf den Menschen ausgerichtete Form der Arbeit. Und: Wir freuen uns auf Rückmeldungen durch Sie mit Ihren Themen und Fragestellungen.
Wir wünschen Ihnen viel Erfolg dabei und unterstützen Sie gerne bei Ihren Vorhaben, etwa bei der Implementierung von mehr gelebter Agilität.
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Michelle Hartl mit Prof. Dr. Daniel Keller für Keller Partner
¹ Dieses und weitere Best-Practice-Beispiele sind zu finden in einer Zusammenarbeit zwischen dem Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation Stuttgart und dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales (hier nachzulesen).
Bildquelle: Foto von Simon Abrams auf Unsplash