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Prof. Dr. Daniel Keller30.10.2020

Boreout

Luxusproblem Langweile?

 

Liebe Leserinnen und Leser,

Es ist 10:30 Uhr an einem regnerischen Dienstag. Dicke Regentropfen prasseln an Ihre Fensterscheiben und Sie schätzen sich glücklich, bei so einem Wetter auf den üblichen Weg zur Arbeit zu verzichten. Denn Sie sitzen „dank Corona“ schon seit vier Wochen im Home-Office. Mit Ihrer Lieblingstasse voll heißem Kaffee bewaffnet wählen Sie sich in die Videokonferenz ein, die Sie mit Ihren Teamkollegen verabredet haben. Erster Tagesordnungspunkt: Ein Blitzlicht, wie es den einzelnen Kolleginnen und Kollegen im ersten Monat Heimarbeit bisher ergangen ist.

Es meldet sich Frau Waldmann zu Wort, die am Schreibtisch sitzend ihr einjähriges Kind auf dem Arm trägt: „Mit dem Kleinen ist es echt nicht einfach, die Mehrarbeit im Job und in der Familie unter einen Hut zu bekommen. Ganz schön stressig, kann ich Euch sagen.“ Ihr Kollege Herr Hüttners entgegnet: „Immerhin hast Du etwas Sinnvolles zu tun! Seit viele der Kundenaufträge weggebrochen sind, drehe ich zu Hause Däumchen. Wenn das länger so weitergeht, komme ich hier vor Langeweile um…“ Frau Waldmann kontert scherzhaft: „Na, an so manchen Tagen würde ich gerne mit Dir tauschen.“

Diese fiktive Situation wirft die Frage auf: Warum fühlen sich zwei Menschen derart unwohl, obwohl sich ihr Arbeitspensum so stark unterscheidet? Darauf liefert unser Oktober- Newsletter einige Antworten im Kurzüberblick. Gleichzeitig berichten wir darüber, was genau das Phänomen “Boreout” ausmacht.

  • Sowohl im Fall einer chronischen Überforderung (einem Burnout), als auch im Falle einer Unterforderung (einem Boreout) liegt ein Ungleichgewicht zwischen den Kompetenzen oder Präferenzen des Beschäftigten und den an ihn gerichteten Arbeitsanforderungen vor. Ein solches Ungleichgewicht setzt die Betroffenen unter anhaltenden Stress. Schließlich braucht das menschliche Gehirn ein ausgewogenes Maß an Stimulation.

  • Der Begriff Boreout wurde 2007 von Peter Werder und Philippe Rothlin verbreitet und kann populärwissenschaftlich als das Gegenstück zum Burnout verstanden werden. Erst die Balance dazwischen ermöglicht einen Zustand des konzentrierten, positiv gestimmten Arbeiten, auch “Flow” genannt. Folgende Grafik veranschaulicht dieses Kontinuum:

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  • Bleibt diese Stimulation im Falle eines Boreout aus, führt dies oft zu einem von Unterforderung geprägten Erschöpfungszustand. Die Betroffenen fühlen sich nicht gebraucht, unnütz, leer oder in ihrer Funktion sinnlos. Dies kann sich in psychologischen und körperlichen Problemen äußern, zum Beispiel in Form von Depressionssymptomen, Schlaflosigkeit oder einer inneren Kündigung. Dazu kommt: Wer länger unterfordert ist, verliert das Interesse an der Arbeit und dequalifiziert sich. Das führt zum sukzessiven Leistungsabbau. Die jeweilige Führungskraft vergibt dann fordernde, komplexe Aufgaben wohlmöglich an andere, was zu noch mehr Langeweile bei den Betroffenen führt.

  • Laut einem Report der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin aus dem Jahr 2012 fühlen sich 13 Prozent der deutschen Beschäftigten fachlich, sowie fünf Prozent quantitativ in ihrem Job unterfordert. Viele Beschäftigte, die während der aktuellen Covid-19-Pandemie ein verringertes Arbeitspensum (z.B. durch eine geschwächte Auftragslage) erleben, können sich nun ebenfalls zu dieser Gruppe dazu zählen. Allerdings existiert bisher keine offizielle psychopathologische Diagnose für die Boreout-Problematik.

  • Unterforderung im Beruf ist demnach keineswegs ein seltenes Luxusproblem – genauso wenig wie chronische Überforderung. Der Burnout erfährt jedoch mehr öffentliche Beachtung. Unterforderte Beschäftigte begleitet in manchen Fällen sogar ein Stigma. Hin und wieder fallen bagatellisierende Sätze wie: „Deine Probleme möchte ich haben!“ Solche Aussagen halten einen Zustand der subjektiven Ohnmacht und Lähmung aufrecht – genährt durch die Befürchtung, bei offener Kundgabe des eigenen Zustands mit Arbeit überflutet oder nicht ernst genommen zu werden.

  • Risikofaktoren für die Entstehung eines Boreouts sind unter anderem: Ein starker Arbeitsethos und ein Gefühl von Ehrgeiz und Verpflichtungsgefühl, eine hohe Leistungs- und Werteorientierung, Unklarheit über die eigenen Fähigkeit, Grenzen zu ziehen bzw. sich abzugrenzen, sowie die Sorge vor Arbeitslosigkeit.

Wie entgeht man nun den Tücken der chronischen Unterforderung? Darauf antworten wir aus zweierlei Perspektiven: Einerseits stellen wir vor, was Sie tun können, wenn Sie Führungsverantwortung gegenüber potentiell Betroffenen tragen. Andererseits geben wir Ihnen einige Ratschläge an die Hand, mit denen Sie sich – wie der berühmte Baron Münchhausen – am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen können.

Meine Mitarbeiter sind unterfordert – was tun? 

Angenommen, Sie wären die Führungskraft im Team von Herrn Hüttners und nehmen sich seinem Problem an. Was kommt Ihnen in den Sinn, um ihn zu unterstützen?
Zunächst sollten Sie, sobald Sie Indizien für einen drohenden Boreout bei Ihrem Mitarbeiter wahrnehmen, das Problem mit Ernsthaftigkeit und Wertschätzung ansprechen. Im Kern ist Ihr Mitarbeiter ein sehr gewissenhaftes und leistungsbereites Mitglied Ihres Teams, welches auf die passende Forderung und Förderung hofft. Wenn Sie diese Qualitäten in einem persönlichen Gespräch aufzeigen und auf Augenhöhe sondieren, wie das Tätigkeitsprofil angereichert werden kann (Stichwort Job Enrichment), machen Sie einen vielversprechenden ersten Schritt auf dem Weg der Besserung. Gehen Sie gemeinsam der Frage nach, welche Möglichkeiten es gibt, um unbeliebte Aufgaben mittelfristig aufzuwerten und mit Entwicklungsmöglichkeiten anzureichern.
Sie demonstrieren dadurch, dass Sie keiner Fließband-Mentalität folgen, sondern eine realistische und empathische Sicht auf die menschliche Funktions- und Arbeitsweise anstreben. Das stärkt die Offenheit und Transparenz ihrer Mitarbeiter Ihnen gegenüber. Die Arbeitsaufgaben sollten nach Möglichkeit herausfordernd, aber realistisch, übersichtlich und damit verstehbar ausfallen. Diese so zu gestalten ist gemeinsame Verantwortung von Führungskraft (als Experte für Arbeitsprozesse und Führung) und Mitarbeiter (als Experte für die Tätigkeit und ihre Anforderungen).
Falls die aktuellen Arbeitsaufgaben nur in begrenztem Maß verändert werden können, kann darüber über die gezielte Lenkung der Aufmerksamkeit am Arbeitsplatz nachgedacht werden. Damit sich das Gehirn die nötige Stimulation nicht am Smartphone mit seinen vielen bunten Ablenkungen sucht, können Sie kreative und aufmerksamkeitsbindende Reize im Arbeitsumfeld platzieren. Ein Beispiel: Ein Ideenboard zur Sammlung von Verbesserungsvorschlägen bezüglich der internen Zusammenarbeit oder des Kundennutzens. So verdrängen Sie die Tatsache nicht, dass manche Aufgaben uninteressant sein können, sondern versuchen, einen Nutzen aus dieser Lage zu ziehen: Wenn die Gedanken am Arbeitsplatz ohnehin zu kreisen beginnen, können sie genauso gut der unternehmerischen Innovation zugute kommen.
Letztlich steht Ihnen noch die Option offen, die Führungs- und Arbeitskultur im Hinblick auf Arbeitszeitregelungen, Präsenzpflicht und Leistungsverständnis zu reflektieren.

Ich selbst bin unterfordert – was tun?

Was aber unternehmen Sie, wenn Sie selbst anhaltende Unterforderung spüren, aus der Sie sich nicht zu lösen scheinen? In der Selbstführung bieten sich ähnliche Handlungsmöglichkeiten an wie in der Mitarbeiterführung:

  • Starten Sie mit einer Selbstreflexion: Protokollieren Sie Ihre Aufgaben und die damit verbundenen Emotionen tagebuchartig. Wann und unter welchen Umständen tritt Unzufriedenheit mit der Arbeit auf? Wann sind Sie im “Flow”, welche Aufgaben schieben Sie lieblos vor sich her?

  • Nehmen Sie sich anschließend Zeit für ein Brainstorming anhand der folgenden Leitfragen: Wie kann ich mir die Arbeit selbst angenehmer gestalten? Welche Möglichkeiten habe ich, unliebsame Aufgaben zu vereinfachen, anzureichern oder zu beschleunigen?

  • Eine Option dabei: Akzeptieren Sie, dass eine unliebsame Aufgabe zu Ihrem Job gehört und dass sie erledigt werden muss. Arbeit ist eben nicht immer nur Spaß. Aber: Spaß gehört auch dazu! Deshalb setzen Sie sich selbst eine Belohnung, nachdem sie erledigt ist. Das kann eine attraktivere Beschäftigung sein, eine Kaffeepause, und so weiter… Hauptsache, es spornt Sie an!

  • Auch Delegieren ist eine Möglichkeit. Vielleicht fordert eine bestimmte Aufgabe jemand anderen mehr als Sie? Hier gilt: Ernsthaft das Gute für den anderen wollen, statt Unliebsames bequem wegschieben. Fragen Sie sich: Wer freut sich wirklich darüber, diese Aufgabe zu übernehmen? Wer meldet sich dafür freiwillig?

  • Wenn Sie merken, wie Ihre Aufmerksamkeit bei der Aufgabenerfüllung wandert, lenken Sie diese auf etwas, was Ihnen nützlich ist – zum Beispiel auf eine Flipchart zu einem kreativen Projekt von Ihnen, die neben Ihrem Schreibtisch steht.

  • Fragen Sie um Rat bei einem Ansprechpartner, dem Sie vertrauen. Sprechen Sie aus, dass Ihnen der Aufgaben-Schuh drückt und übernehmen Sie Eigenverantwortung für Ihre Situation. Sie entscheiden sich dabei selbst für eine Lösung des Problems – nicht jemand anderes. Sie dürfen gut gemeinte Vorschläge daher auch ablehnen. Falls Sie anhaltende psychologische oder körperliche Symptome spüren, gehen Sie auf die nächste Stufe der Selbstverantwortung – im Rahmen eines professionellen Coachings oder einer psychologischen Beratung.

Wir hoffen, dass unter diesen Vorschlägen einige dabei waren, die Boreout an Ihrem Arbeitsplatz schnell und effektiv vertreiben. Sollten Sie Unterstützung im Selbstmanagement oder bei der Sondierung von Anforderungsprofilen und Mitarbeiterpotenzialen benötigen, steht Ihnen das KellerPartner-Team gerne mit Rat und Tat zur Seite.

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Wir wünschen Ihnen viel Erfolg beim Gestalten!
Jan-Hendrik Wiskemann mit Prof. Dr. Daniel Keller für Keller Partner

 

Bildquelle: Foto von Drazen Zigic auf Freepik

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