Liebe Leserinnen und Leser,
Agilität ist ein wesentliches Trendthema in einer sich wandelnden, digitalisierten Arbeitswelt. Der Begriff prägte bisher vor allem Arbeitsprozesse im Bereich Softwareentwicklung. Doch nicht nur Software- und Technikanbieter bewegen sich in einer komplexen wirtschaftlichen Umwelt, die von wachsender Unvorhersehbarkeit, schnellen Marktentwicklungen und wandelbaren Kundenbedürfnissen bestimmt wird. Viele Organisationen müssen sich neu definieren, denn wer auf seinem Gebiet nicht erfolgreich ist, ist auch nicht lange überlebensfähig. Entsprechend stellt sich die Frage, auf welche Art und Weise Agilität als Hebel in der Transformation auch in anderen Fachbereichen zum Einsatz kommen kann.
Die Swisscom AG aus der Schweiz kann als ein Beispiel herangezogen werden, wie ein Großunternehmen der “agilen Transformation” begegnet. Denn “um mit der stetigen Veränderung umzugehen und die Strategie erfolgreich umzusetzen, lernen und entwickeln sich Mitarbeitende bei Swisscom kontinuierlich weiter – sei dies in der Denkhaltung, in den Arbeitsweisen oder in Zusammenarbeitsformen und Strukturen. Swisscom setzt dabei u.a. auf agile, kundenzentrierte Arbeits- und Organisationsformen, kontinuierliche Verbesserung und Vereinfachung, den Aufbau von relevanten Schlüsselfähigkeiten und die technologische Transformation.[1]” Dabei geht es heute nicht mehr nur um Agilität in der Softwareentwicklung. Denn auch an der direkten Kundenschnittstelle im Verkauf und Kundendienst werden Ansätze getestet und umgesetzt.
Herr Dr. Tobias Lehmkuhl (im Folgenden mit TL abgekürzt) begleitet diesen Prozess der Einführung von agilen, kundenzentrierten Arbeits- und Organisationsformen an der Kundenschnittstelle. Im folgenden Interview, für das er sich freundlicherweise bereit erklärte, möchten wir von ihm erfahren, welche Erfahrungen er bezüglich den Möglichkeiten und Fallstricken agiler Transformation berichten kann. Das Interview führte Jan Wiskemann (abgekürzt mit JW) im Namen von Keller Partner.
Zur Person:
Dr. Tobias Lehmkuhl managt die agile Transformation bei der Schweizer Telekommunikationsgesellschaft Swisscom. Der promovierte Betriebswirt und zertifizierte SCRUM-Master ist Experte für Digitalisierung, Agilität und strategisches Management und blickt im akademischen Bereich ebenfalls bereits auf eine breite Auswahl wissenschaftlicher Veröffentlichungen zurück.
Das Interview:
JW: Vielen Dank, Herr Dr. Lehmkuhl, dass Sie sich die Zeit für ein Interview mit Keller Partner nehmen. Wir möchten Ihnen einige Fragen rund um das Themengebiet Agilität und agile Führung stellen, die auch viele unserer Leser beschäftigen. Wir möchten in Ihre Perspektive in Bezug auf verschiedene Ebenen agilen Denkens eintauchen. Vor allem interessieren uns die überblickende Perspektive des Managements, sowie die Rolle und Handlungsmöglichkeiten agiler Führungskräfte. Da Schlagworte rund um Agilität und agile Führung mitunter durch Konferenzräume schallen, ohne dass ein geteiltes Verständnis ihrer Bedeutung vorliegt, möchten wir zunächst wissen: Wenn Arbeitsgruppen plötzlich “Squads” und Teamleiter auf einmal “Product Owner” oder “Scrum Master” heißen, oder aus dem Team-Meeting ein “Stand-Up Meeting” wird – kann man das dann schon als eine agile Arbeitsstruktur bezeichnen?
TL: Hallo, sehr gerne. Wenn diese Begriffe in ihrer konzeptionellen Bedeutung auch so umgesetzt werden, dann lautet die Antwort auf diese Frage vielleicht “Ja”. Aber: Bei der Einführung von agilen Arbeits- und Organisationsformen braucht es durchaus erst einmal die Besinnung und das Verständnis von agilen Prinzipien, zum Beispiel abgeleitet aus dem agilen Manifest. Dies schafft eine gemeinsame Basis. In der konkreten Transformation sollte dann an den Hebeln “Being agile” (Mindset) und “Doing agile” (Abläufe & Strukturen) gleichzeitig gearbeitet werden. Die Strukturen, d.h. Aufbauorganisationen wie etwa Squads oder Tribes oder die Rollen (sei es die des Scrum Masters, Product Owners, usw.) sind ein wesentliches Element der agilen Transformation. Doch ohne ein passendes Veränderungsmanagement zur Implementierung des Mindsets bleibt Agilität auf der Ebene der Schlagwörter.
JW: Swisscom ist eine Organisation, die sich in in einem von rapidem technologischen Fortschritt geprägten Umfeld behaupten muss. Auf welche Weise hält Agilität Einzug in Unternehmensbereiche mit direktem Kundenkontakt?
TL: Agilität ist kein Selbstzweck, sondern ein Mittel, um den Unternehmenswert nachhaltig zu steigern. Der Kunde soll dabei im Mittelpunkt des Handelns und Denkens stehen. Für die Umsetzung wurde und wird ein phasenweises und iteratives Vorgehen gewählt. Im ersten Schritt entwickelten wir eine Vision und ein Zielbild, die als Basis für die Einführung von Agilität in diesem Anwendungsbereich gelten. Im Anschluss wurde ein MVP, ein Minimum Viable Product, aufgesetzt, in dessen Rahmen ein agiler Arbeits- und Organisationsansatz in einem interdisziplinären Team getestet wurde. Nach dem erfolgreichen Test wurde aus dem Experiment nun ein Pilotprojekt, mit künftig rund 130 involvierten, operativ arbeitenden Personen. Perspektivisch würde sich der Rollout in der ganzen Organisation anschließen, sofern der Pilot ebenfalls erfolgreich ist.
JW: Unternehmensleitungen erhoffen sich von einer Umstrukturierung in Richtung einer agilen Arbeitsstruktur, dass die Organisation unvorhergesehene Umweltveränderungen zügig wahrnehmen oder sogar antizipieren und diesen effektiv begegnen kann. Anpassungsfähigkeit bedeutet Überlebensfähigkeit. Trotzdem sind nicht alle auf Agilität ausgerichteten Vorhaben erfolgreich. Was kann Ihrer Erfahrung nach bei der Umstellung von einer traditionellen auf eine agile Führungsstruktur schiefgehen? Wo kann eine agile Transformation an ihre Grenzen stoßen?
TL: Die Veränderung beginnt zuerst im Management. Die Transformation beginnt mit der Einsicht, dass bisherige Führungsstrukturen, Führungsmechanismen, Organisationsformen und Prozesse den Anforderungen an rasche Veränderungen nicht mehr genügen. Ein potentielles Hindernis bei der Umsetzung von Agilität ist daher die fehlende Begleitung der Führungskräfte beim Verstehen von Führung in der agilen Welt. Mitunter müssen wir uns dabei mit der Angst vor Kontroll- und Autoritätsverlust oder gar vor dem Verlust des eigenen Arbeitsplatzes beschäftigen. Letztlich geht es – sehr einfach formuliert – um den Wandel von einem “klassischen Chef” zu einem Coach, der sein Team auf Augenhöhe entwickelt und begleitet.. Ist das nicht gegeben, wird sich der Erfolg der agilen Transformation wohl weniger ausgeprägt realisieren lassen.
JW: Daran schließt sich direkt die Frage an, welches Rollen- bzw. Führungsverständnis und Führungsverhalten dazu beiträgt, agile Ziele in die Tat umzusetzen…
TL: Führungskräfte geben die Vision, die Ziele, Rahmenbedingungen und Regeln vor, innerhalb derer sich ein Handlungsspielraum für Mitarbeitende ergibt. Grundlegend kann man von dieser Aufgabenstellung einen situativen und transformationalen Führungsansatz ableiten. In der Ausführung bedeutet dies konkret, dass Führung kein klassisches “Command and Control”- Muster von Führungskraft zu Mitarbeiter mehr beinhaltet. Wir sprechen weniger über “Anordnungen”, sondern stärker von “Befähigung”. Stellen Sie als Führungskraft also viele, konkrete Fragen wie “Wie würden Sie dieses Problem lösen?”, statt Vorgaben auszusprechen nach dem Motto “Machen Sie es doch so und so”.
JW: Herr Lehmkuhl, welche Bedeutung erhalten denn Stabilität und Regelhaftigkeit in Zeiten permanenter Veränderung von Arbeitsweisen und Organisationsformen?
TL: Die große Herausforderung ist sicherlich die beidhändige Führung, sprich: die Balance zu finden zwischen der der Optimierung des laufenden Betriebes und der Erneuerung des Geschäftsmodells als Basis für Zukunftsfähigkeit. In diesem Spannungsfeld wird es den Zustand von Beständigkeit immer seltener geben, sondern vielmehr einen permanenten Wandel. Dieser wird weniger in Form komplexer, schlagartiger Reorganisationen stattfinden, sondern er äußert sich eher in Veränderungen, die iterativ erfolgen. Innerhalb dieser iterativen Veränderungen gibt es jedoch eine große Regelmäßigkeit in der Arbeitsorganisation. Dies können etwa Sprint-Planungen, Daily Stand-Ups und Retrospektiven sein oder ein Kanban-Board, um den Arbeitsfortschritt zu dokumentieren. Was man daraus zusammenfassend ableiten kann, ist: Stabilität wird neu definiert. Feedback-gesteuerte Veränderung und Anpassung werden zur neuen Regelmäßigkeit. Es gilt, den Handlungsspielraum zu erkennen und auszunutzen, der sich bei Veränderung bietet, um eine “gefühlte” Planbarkeit wiederherzustellen, sei es durch regelmäßige Rituale und Arbeitsprozesse, die mit dem Wandel gehen, statt sich ihm zu verschließen.
JW: Nun möchten wir gemeinsam mit Ihnen, Herr Lehmkuhl, auf die erforderlichen Denkprozesse und Handlungsmöglichkeiten einer Führungskraft blicken, die mit dem Wunsch nach mehr Agilität im Unternehmen konfrontiert ist. In Bezug auf agile Transformation im Unternehmen wird oft die Bedeutung des passenden “Mindsets” unterstrichen, um individuelle, sowie unternehmerische Stagnation aufzulösen. Möchten Sie erläutern, wie ein solches Mindset aussehen kann?
TL: Ein “agiles Mindset” werden Sie nicht von jetzt auf gleich in den Köpfen und Herzen der Mitarbeitenden verankern. Genausowenig können Sie Agilität verordnen, á la: “Sie sind jetzt agil!” Es ist vielmehr ein Prozess des Umdenkens, bei dem Führungskräfte und Linienmitarbeitende mitgenommen werden müssen. Drei beispielhafte Elemente aus einem dazu passenden Mindset sind:
Mit Unsicherheit umgehen können: Es gibt eine Vision, doch der Weg dahin ist unklar. Wichtig ist: Schrittweises Ausprobieren, aushalten können und Spannungen akzeptieren.
Aus Sicht der Führung: Es gilt, die formale “Entscheidungsmacht” bewusst abzugeben bzw. zu delegieren, sowie den Menschen dahingehend zu vertrauen, dass sie das Richtige im Sinne des Unternehmens und des Kunden tun.
Die Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen und auch aktiv zu verlernen: Als Beispiel dient die Art und Weise, Meetings zu organisieren. Es muss nicht mehr die Führungskraft einladen, die Agenda vorgeben und das Meeting leiten. All jene Aufgaben können durchaus von Mitarbeitenden durchgeführt werden, was zu mehr Interaktivität und Aufmerksamkeit führt.
JW: Es wird postuliert, dass Führungskräfte eine kulturbezogene Verhaltens- und Einstellungsveränderung bei den Mitarbeitern anregen sollen, um strategische Ziele gemeinsam zu erreichen. Aber wie gelingt es, Akzeptanz und Veränderungsmotivation bei (möglicherweise ängstlichen oder skeptischen) Mitarbeitern zu wecken?
TL: Im Grundsatz muss der Impuls von der Führungsebene aus initiiert und hier auch gelebt werden. Nur dann wird der Wandel auch auf der Ebene von Linienmitarbeitenden realisiert und akzeptiert. Wenn die Führung jedoch in den alten Mustern verbleibt, darf die berechtigte Frage aufkommen, warum sich Mitarbeitende dann verändern müssen. Gleichwohl müssen Führungskräfte akzeptieren, dass es einen nicht unerheblichen Teil von Mitarbeitern gibt (durchaus 20-25%), die für den Wandel hin zu mehr Eigenverantwortung und Selbstorganisation nicht bereit sind. Prinzipiell glaube ich aber daran, dass viele Mitarbeitende grundsätzlich bereit sind, mehr Verantwortung zu übernehmen. Mitarbeitende mussten in der Vergangenheit häufig nach “Prozess“ arbeiten und konnten – salopp gesagt – den Kopf ausschalten. Wenn dies nun verändert wird, ergibt sich bei ihnen eine ganz neue (intrinsische) Motivation und damit Eigeninitiative.
JW: Vielleicht geht damit für manche Mitarbeiter eine neue Wertschätzung für die Arbeit einher, wenn größere Handlungsspielräume mehr kreative Freiheit erlauben? Was Agilität aus Mitarbeiterperspektive bedeutet – im Sinne von Selbstmanagement und Eigenverantwortung – und wie Führungskräfte effektiv mit ihnen darüber in Dialog treten, möchten wir zu einem späteren Zeitpunkt erkunden. Schließlich möchten wir uns herzlich bei Ihnen, Herr Lehmkuhl, für Ihre wertvolle Zeit und Ihre spannenden Antworten bedanken. Wir haben uns sehr gefreut, Sie als Gesprächspartner begrüßen zu dürfen.
Vielen Dank für Ihr Interesse! Das ganze Team von Keller Partner-Team wünscht Ihnen eine besinnliche Adventszeit und viel Erfolg bei allen beruflichen Vorhaben im neuen Jahr.
Herzliche Grüße und bis zum nächsten Mal,
Jan Wiskemann mit Prof. Dr. Daniel Keller für das Keller Partner Team
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