Liebe Leserinnen und Leser,
wir befinden uns heute auf einer kurzen Zeitreise in Ihre Schulzeit – in eine Zeit, bevor Covid-19 die Schullandschaft auf den Kopf gestellt hat. Sie und die anderen Kinder der Klasse 6b sitzen angespannt in ihren Bänken, denn es ist Zeit für eine mündliche Abfrage. Der Lehrer steht mit verschränkten Armen vor der Gruppe, lässt seinen scharfen Blick über die Schülerinnen und Schüler schweifen. Dieser ruht einen kurzen Moment genau auf Ihnen. Dann holt er die Klassenliste hervor und wählt zufällig einen Namen aus. Es ist der Ihres Sitznachbarn.
Nach einem kurzen Moment der Erleichterung („Glück gehabt!“) läuft Ihnen ein kalter Schauer den Rücken herunter, denn Sie wissen: Richtig sattelfest fühlen Sie sich beide nicht im Lehrstoff. Unmöglich, sich jetzt freiwillig zu melden und Ihren Kameraden zu erlösen. Dann prasseln auch schon die ersten Fragen auf ihn ein. Die erste lässt sich mit Halbwissen befriedigend beantworten, aber schon die zweite löst Verlegenheit aus. Auf die dritte folgt betretenes Schweigen. Der Blick des Lehrers verfinstert sich, bevor er die Leistung knapp als “mangelhaft” betitelt und die entsprechende Note neben dem Namen auf der Liste notiert. Mit hochgezogenen Schultern und scheuem Blick sinkt erst Ihr Mitschüler, danach Sie und die gesamte Klasse betreten in die Bänke. Die mündliche Beteiligung der Gruppe bewegt sich für den Rest der Unterrichtsstunde auf einem Minimum…
Nun zurück in die Gegenwart! Fühlen Sie sich als Erwachsener manchmal in diese Lage zurückversetzt? Übertragen wir die Situation zum Beispiel auf ein fiktives Team-Meeting. Würden Sie sich darin noch mutig und ohne Zurückhaltung zu Wort melden, wenn Sie schnippische oder verurteilende Kommentare von Ihren Vorgesetzten oder Kollegen befürchten müssten? Wenn Sie sich insgeheim fühlen, als müssten Sie sich für jedes Wort rechtfertigen oder entschuldigen? Sicher nicht! Was sowohl in der Unterrichtsstunde der 6b, als auch im Meeting fehlt, ist ein Klima der psychologischen Sicherheit. Es fehlt die geteilte Überzeugung, dass Offenheit und Ehrlichkeit in der Gruppe nicht sanktioniert oder ausgenutzt, sondern gefördert werden. Nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene vermissen hier, dass es okay ist, mit spontanen oder kontroversen Wortmeldungen ein Risiko einzugehen.
Sie ahnen also schon, warum das Konzept der psychologischen Sicherheit heute immer noch wichtig ist, auch wenn Amy Edmonson es schon 1999 entwarf. Gerade in unsicheren Unternehmensfeldern, in denen das Arbeitsergebnis einer agilen Arbeitsgruppe maßgeblich vom Input aller Beteiligten abhängt, braucht es wirksame und respektvolle Zusammenarbeit.
Um bestehende Strukturen mit innovativen Ideen und flexiblen Prozessen zu modernisieren, soll sich das kreative Potenzial des Teams in Gänze entfalten können.
Kurzum: Wenn alle höflich schweigen, sind für den Moment alle zufrieden. Aber langfristig bleiben Fehlentwicklungen unbenannt und Lerngelegenheiten unerkannt.
Vor allem in Gruppen, die unter strengen Effektivitätsvorgaben arbeiten, bleibt der Fokus auf teaminternes Vertrauen und Kommunikation gelegentlich auf der Strecke. Dahinter kann die Philosophie stecken: “Wer bewegt sich schon, wenn er sich sicher fühlt?” Zugrunde liegt die Annahme eines Trade-Offs zwischen Wohlfühlen und Veränderungsmotivation. Doch die Neurowissenschaft entlarvt dies als Trugschluss: Zusammengefasst ist die Amygdala in Stresssituationen damit beschäftigt, höhere Hirnareale von komplexen Problemlösungen abzuhalten und die verfügbaren Ressourcen in eine Reaktion des Kampfes, der Flucht oder des Erstarrens zu investieren (Rock 2008; Schiefer & Gattner, 2019). Hiernach ist im Meeting also höchstens ein Wegducken oder eine Trotzreaktion zu erwarten.
Ein respektvolles, konstruktives Miteinander setzt Oxytocin bei den Beteiligten frei – ein stressreduzierendes Bindungshormon. Dabei bleiben genug Kapazitäten für kreative Ideen frei. Gefühlte Sicherheit ist demnach nicht der Gegenpol, sondern die Voraussetzung für mutige Veränderungen! Ebenso wie Schulkinder brauchen Erwachsene einen sicheren Hafen, von dem sie die Umwelt und ihre Möglichkeiten erkunden können.
Das Projekt „Aristoteles“ des Tech-Riesen Google belegt, dass die leistungsfähigsten Teams aus Eigeninitiative in psychologische Sicherheit investieren. Sie demonstrieren eine moderate Risikobereitschaft, divergentes Denken und Verantwortungsübernahme, um innovative Kundenlösungen zu entwickeln.
Um diese Potenziale auch in Ihrem Team freizusetzen, empfiehlt sich zunächst eine Bestandsaufnahme: Wie psychologisch sicher fühlen sich Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter? Folgende Leitfragen können Ihnen bei der Einschätzung helfen:
Fragen Ihre Mitarbeiter in Meetings nach Themen, die sie nicht verstehen oder kritisch sehen? Fragt man nach Hilfe, wenn sie nötig ist? Oder wird versucht, ein Image der Perfektion aufrechtzuerhalten?
Werden Prozesse hinterfragt oder einfach “höflich abgenickt”?
Wie reagiert das Team intern auf Misserfolge bzw. Fehlschläge? Distanzieren sich die Verantwortlichen oder werden Lernmöglichkeiten und gemeinsame Lösungsoptionen betont?
Kommen in Meetings alle zu Wort, ungeachtet von Rang und Position?
Fühlen sich die Beteiligten für ihren Beitrag zum Gesamtergebnis wertgeschätzt? Oder achten sie eher darauf, rollenbezogene Grenzen und Parameter einzuhalten?
Diese Fragen können Sie selbstverständlich auch Ihren Beschäftigten stellen – zum Beispiel im Rahmen regelmäßiger Umfragen oder Feedback-Runden. Falls Sie bei mehr als der Hälfte der Fragen merken, dass Ihre Einschätzung von der konstruktiven Option abweicht, besteht wahrscheinlich Handlungsbedarf. In jedem Fall möchten wir Ihnen einige Vorschläge anbieten, mit denen Sie die psychologische Sicherheit in Ihrem Team fördern können:
Demonstrieren Sie Interesse für die Anliegen Ihrer Mitarbeiter – über Augenkontakt, Zuhören, Zusammenfassen, Rückfragen, den Laptop beiseite legen, usw.
Erfragen Sie explizit den Input Ihres Teams und loben Sie Wortmeldungen – auch bzw. gerade dann, wenn diese kritischer Natur sind. Machen Sie diese transparent, zum Beispiel über Moderationskarten.
Verzichten Sie auf Schuldzuweisungen, sondern verständigen Sie sich auf eine gemeinschaftliche Problemlösung: „Ich glaube, dass viele Faktoren zu diesem Problem führen. Welche davon können wir gemeinsam aufdecken? Was meinen Sie, muss hier passieren? Wie kann ich Sie bei der Problemlösung unterstützen?“
Betrachten Sie Konflikte als Ihre Verbündeten, nicht als Widersacher: Negativität auf persönlicher Ebene ist immer kontraproduktiv und muss aufgearbeitet werden. Aber sachbezogene Meinungsverschiedenheiten befeuern kreative Lösungen. Denken Sie das Meeting als eine Art „Marktplatz der Ideen”.
Probieren Sie eine Gruppenmethode aus, die bei Google praktiziert wird: Lassen Sie Teammitglieder Aussagen über ihren Gesprächspartner formulieren, mit dem Satzende “so wie ich auch”. Zum Beispiel: “Mein Kollege möchte Anerkennung für seine Leistungen – so wie ich auch.” Das stärkt Empathie und Perspektivenübernahme.
Zum praktischen Einstieg in das Thema psychologische Sicherheit genügt vielleicht schon eine einzige Frage: Wie würden Sie sich im Meeting fühlen, wenn Sie wieder Schülerin oder Schüler wären? Ihr Bauchgefühl gibt Ihnen dabei schon Aufschluss darüber, welche Veränderung es für das nächste Treffen braucht. Wenn Sie Unterstützung bei der Umsetzung wünschen, steht Ihnen das Keller Partner-Team mit Rat und Tat zur Seite.
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Wir wünschen Ihnen viel Freude dabei, aus einem sicheren Hafen heraus neue Ufer zu entdecken!
Jan-Hendrik Wiskemann mit Prof. Dr. Daniel Keller für Keller Partner
Titelbild: Foto von Pexels